Michelstadt Marktplatz, Sonntag, 20. September. High Noon, wolkenlos blauer Himmel. Es ist herbstmild, viele Menschen flanieren. Weiße Stehtische vor dem „Schwarzen Adler“, ein Mikrofon ist aufgestellt. Mit dem letzten Glockenschlag geht Roger Tietz ans Mikrofon. „Hier stehe ich nun und kann nicht anders“, beginnt er. „Der neue Michelstädter Bürgermeister“, antwortet eine ältere Dame auf die fragenden Blicke eines neben ihr stehenden Pärchens.
So weit ist es noch nicht. Aber dem, der da spricht, trauen das viele zu. Vor allem die SPD, der Roger Tietz seit kurzem angehört, und die ihn am Vortag mit großer Mehrheit für das Bürgermeisteramt nominiert hat. Parteiprominenz ist reichlich vertreten, aus Bundestag, Kreistag und natürlich auch aus der Michelstädter Lokalpolitik. Und Nancy Faeser, die Landesvorsitzende der SPD hat es sich trotz verletzungsbedingtem Handicap nicht nehmen lassen, der Einladung nach Michelstadt zu folgen.
Ein bewanderter Redner

Sie und all die anderen auf dem Marktplatz hören aufmerksam zu. Denn Roger Tietz hält keine klassische Rede. Er erzählt von sich, seinem Weg als Sohn deutscher Eltern, 1959 in Calgary/Kanada geboren, 1965 nach Deutschland ausgewandert. Abitur. Zivildienst. Dachdeckerlehre. Wanderschaft. Am 9. November 1982 kommt er erstmals nach Michelstadt, es ist schon dunkel, im Rathaus brennt noch Licht. Reisende Gesellen sind hemmungslos, also klopft er an und wird Zeuge, wie Michelstädter und Erbacher … mehr kann er von jenem Eintrag nicht mehr entziffern, den Altbürgermeister Reinhold Ruhr seinerzeit in sein Wanderbuch geschrieben hat.
Heiterkeit im Publikum, gute Laune allenthalben. Es gibt Kochkäs‘ mit Roggensauerteigbrot vom Weltmeister, dazu, wer will, Äppelwoi. Jenes Getränk, das Roger Tietz mit „Der muss gekippt sein!“ zurückgeben wollte, als er den ersten Schluck davon nahm, seinerzeit auf Wanderschaft. Heute genießt er nicht nur diese der vielen hessisch-odenwälderischen Traditionen. Seit 1987 ist er heimisch geworden im schönen Michelstadt. Seine Liebste, die es auch heute noch ist, erzählt er, spielt dabei eine große Rolle. Er gründet die Zimmerei „Baulust Segati“, züchtet begeistert Hühner, engagiert sich als vielseitiger Kulturschaffender und Theatermensch.
Lust auf Politik
Eine bessere Kulisse als das historische Rathaus kann er sich nicht wünschen. Zumal Roger Tietz hier als Handwerker schon selbst Hand angelegt hat. Solch eine Geschichte könne man sich nicht ausdenken, sagt er. Sein Publikum folgt ihm, kein Wunder. Nicht nur die neuen Parteifreunde, auch viele seiner langjährigen Theatergefährten der „Spiellust“ sind gekommen. Sie haben sichtlich Lust am Auftritt ihres Chefs.
Der ist ganz in seinem Element, spricht von den Fähigkeiten, die er sich im Laufe der Jahre erworben hat. Und die er auch als Bürgermeister gut brauchen kann: flexibel sein, lösungsorientiert handeln. Ausdauer, Beharrlichkeit. Roger Tietz weiß, dass das, was gestern funktionierte, morgen keinen Erfolg mehr bringen muss. Und er weiß, was zu tun ist. Weil die Straßen in Michelstadt seinen Anhänger zum Klappern bringen. Weil nach Corona nichts mehr so sein wird wie vorher. Weil der Bienenmarkt nicht nur deshalb ein neues Konzept braucht. Weil die Odenwaldhalle saniert werden muss.
Wahl am 14. März 2021
Man nimmt Roger Tietz ab, dass er das alles nicht nur weiß, sondern dass er es auch macht. Wenn ihn die Bürgerinnen und Bürger Michelstadts lassen und ihn am 14. März 2021 wählen. Als ihren Bürgermeister, als Nachfolger von Stephan Kelbert, der nach 12 Jahren Amtszeit nicht mehr antritt. Eben jener Stephan Kelbert ist auch gekommen. Hört zu, schaut manchmal kritisch oder nickt zustimmend. Roger Tietz wirbt auch bei ihm um Unterstützung. Denn er weiß, dass er viel Unterstützung brauchen wird, wenn er in seinem neuen Amt erfolgreich sein will.
„Hier stehe ich nun und kann nicht anders“, beendet Roger Tietz seine Rede wie er sie angefangen hat. Es ist das erste Mal, dass sich leiser Widerspruch regt: Der Mann könnte ganz bestimmt anders, er will es nur nicht. Roger Tietz will Bürgermeister werden. Und das finden viele, ganz viele gut so auf dem Michelstädter Marktplatz, an diesem sonnigen Septembersonntag.