Michelstädter Stadtparlament beschließt einstimmig „Satzung für die Bestellung und die Aufgaben eines Inklusionsbauftragten“
„Eine barrierefreie Gestaltung aller Lebensräume ist unser Ziel.“ So steht es im Programm der SPD Michelstadt für die Wahlperiode 2021-2026. Die Installierungen eines oder einer Inklusionsbeauftragten ist ein nächster Schritt auf diesem Weg.
Warum brauchen wir in Michelstadt einen oder eine Inklusionsbeauftragte?
Weil wir allen Bürgerinnen und Bürgern unsere Stadt die Möglichkeit geben wollen, sich selbstbestimmt, d.h. nach eigenen Wünschen und unabhängig von eingeschränkten Möglichkeiten aktiv an unserer Gesellschaft zu beteiligen.
Das heißt, dass ihnen z.B. der Gang in die Stadtverwaltung, ins Museum, in die Geschäfte oder in die Lokale unserer Stadt ohne Hindernisse und Inanspruchnahme fremder Hilfe möglich ist. Selbstbestimmung ist die Maßgabe.
Wir wissen, dass dies speziell in der Altstadt nicht ganz einfach werden wird.
Doch unser Anspruch ist es, ein inklusives Miteinander und die Teilhabe für alle zu ermöglichen. Und das heißt: Auch hier müssen wir praktikable Lösungen finden und für Verbesserungen sorgen.
Nicht nur dazu kann ein oder eine Inklusionsbeauftragte/r einen entscheidenden Beitrag leisten. Seine oder ihre Aufgabe ist: aufmerksam machen, aufklären, mahnen, Mängel aufzeigen, pragmatische Lösungshinweise geben. Uns den Blick schärfen, für das, was wir nicht sehen, weil wir z.B. als Fußgänger die Perspektive des Rollstuhlfahrers nicht kennen. Oder die einer Seniorin mit Rollator. Oder den eines Vaters mit Kinderwagen.
Inklusion ist ein Menschenrecht
Immerhin hat sich die Bundesrepublik das 2009 zum Ziel gesetzt. Jeder Mensch in Deutschland hat damit das Recht teilzuhaben – dabei zu sein bei der Arbeit, beim Sport, im Theater, in der Schule, in der Politik.
Der Leitgedanke heißt „Inklusion“. Und Inklusion meint etwas ganz anderes als „Integration“.
Mit Inklusion bezeichnet man die selbstverständliche Einbeziehung von Menschen mit Handicaps in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger. Dabei gilt die Vielfalt des menschlichen Lebens als „normal“. Sog. Behinderungen oder Abweichungen von der Norm sind gleichberechtige Formen dieser Lebensvielfalt. Die Umgebung und ihre mangelhafte Anpassung an diese vielfältigen Lebensformen erzeugt die Behinderung, nicht der dadurch behinderte Mensch selbst.
Während bei Diskussionen über Integration häufig darüber gestritten wurde, wie aus der „besonderen Fürsorge“ für behinderte Menschen heraus Begegnungen mit nicht-behinderten Menschen ermöglicht werden könnten, will Inklusion solche Etikettierungen von vornherein vermeiden, sie bezieht sich eben nicht nur auf die Menschen, die wir gemeinhin als Behinderte bezeichnen.
Sie inkludiert alle sog. Minderheiten, also etwa Migranten, Homosexuelle, sehr große oder sehr kleine Menschen, Kinder, Seniorinnen, Jugendliche mit besonderen Zuwendungsbedürfnissen. Deshalb wollen wir in Michelstadt auch keinen Behindertenbeauftragten, sondern einen oder eine Inklusionsbeauftragte.
Es gibt noch viel zu tun
Inklusion ist ein ständiger Prozess, und der hat auch in Michelstadt erst begonnen. Denn ein bisschen inklusiv zu sein ist genauso unmöglich, wie ein bisschen schwanger zu sein
Mit einer oder einem Inklusionsbeauftragten wollen wir diesen Prozess beschleunigen, er oder sie darf und soll den Finger in unsere exklusiven Wunden legen.
Beispiel Stadtschule
In Michelstadt gibt es seit diesem Schuljahr eine gruppeninklusive Klasse an der Stadtschule. Zwei Kinder mit Handicaps aus unserer Stadt und zwei weitere aus der Umgebung lernen unter optimalen räumlichen, sächlichen und personellen Bedingungen gemeinsam. Das ist toll und überfällig, voraus ging allerdings ein schwieriger Prozess. Was genau erschwert das inklusive Denken an unseren Schulen? In unseren Michelstädter Kitas wird schon Inklusion viel selbstverständlicher gelebt, und das ist gut so.
Der Konstruktionsfehler der UN-Konvention
Warum tun wir uns generell so schwer mit der Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen?
Weil das aus daraus resultierende Teilhabegesetz einen entscheidenden Konstruktionsfehler hat: es ist nicht mit Sanktionen unterlegt.
Ein Brandschutzbeauftragter hat es da deutlich leichter, nicht-erfüllte Brandschutzauflagen können zur Schließung einer Einrichtung führen. Welche Konsequenzen hat die mangelnde Bereitschaft zur Umsetzung des Menschenrechts auf Inklusion? Fragezeichen!
Unse/r kommunale/r Inklusionsbeauftragte/r kann und soll nicht sanktionieren, sie oder er könnte aber unterstützen und beraten. Z.B. die vielen Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund, herkunftsbedingte Diskriminierungen sind an unseren Schulen leider immer noch häufiger als wertschätzender Umgang auf Augenhöhe.
Inklusion und Teilhabe in der Michelstädter Stadtgesellschaft
Und wie sieht es in unserer Stadtgesellschaft aus? Wie steht es um die Teilhabe unserer Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund?
Schauen wir uns doch mal um. Wir haben in der Michelstädter Bevölkerung einen Migrationsanteil von 27 %. Wie repräsentiert sich das in unserer Stadtverordnetenversammlung? 27% von 37 sind ziemlich genau 10, tatsächlich haben wir zwei. Und wie sieht es aus mit dem Anteil an Frauen oder der Generation unter 30?
Tun wir wirklich alles, um gesellschaftliche und politische Teilhabe zu ermöglichen? Informationen in verschiedenen Herkunftssprachen gibt es inzwischen schon häufiger, was ist mit Informationen in leichter Sprache? Die würden auch vielen Menschen mit deutscher Muttersprache weiterhelfen.
Auch hier sollten wir ein Zeichen setzen und die beschlossene Satzung in leichter Sprache verfassen.
Beispiel Erbacher Straße / B47
Kürzlich ist in Stockheim die Kreuzungsanlage Erbacher Straße/B47 in großem Stil umgebaut worden. Natürlich barrierefrei, wie es sich gehört. Hier liegt das Problem, oder sagen wir besser, der Entwicklungs- und Beratungsbedarf nicht in der Haltung, sondern in der Ausführung. Folgt nämlich ein sehbehinderter Mensch der taktilen Spur auf dem Boden quasi in blindem Vertrauen, wird er direkt mit dem Ampelpfosten kollidieren, der mitten auf dieser Spur steht. Bei einem Ortstermin in Vorplanung eines entsprechenden Umbaus am Potsdamer Platz von unserem Magistratskollegen Hajo Prassel darauf angesprochen, zeigte man sich seitens Hessen-mobil etwas sperrig. Der Teufel steckt wie immer im Detail, die Ausführungsfehler hat wohl die beauftragte Firma zu verantworten, die von der Stadt mitbezahlt wurde. Immerhin gelobte man, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wir dürfen aber zu Recht erwarten, dass es schon beim ersten Mal richtig gemacht wird. Ein oder eine Inklusionsbeauftragte/r hätte vielleicht dafür sorgen können.
Wie geht es weiter?
Erfreulich nicht nur für die SPD ist es, dass die Satzung für die Bestellung eines oder einer Inklusionsbeauftragten nun einstimmig beschlossen ist. Jetzt folgt die Ausschreibung der Stelle, die Auswahl einer geeigneten Person und danach die förmliche Bestellung durch die Stadtverordnetenversammlung. Das könnte bei optimalem Verlauf am 21. Februar 2022 erfolgen. Dann wäre der nächste Schritt getan. Viele weitere sind nötig und werden folgen. Dazu hat sich die SPD (nicht nur) in ihrem Wahlprogramm verpflichtet.