Der Michelstädter Hans-Joachim Prassel erkennt als Rollstuhlfahrer noch viel Nachholbedarf, wenn es um die Barrierefreiheit geht
Beitrag von Manfred Giebenhain im Odenwälder Echo vom 2. Dezember 2021
MICHELSTADT. Wenn die Rede von „der gleichberechtigten Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ ist, richtet sich üblicherweise der Blick zunächst auf die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung. „Das ist richtig, aber bei Weitem nicht alles“, sagt dazu Hans-Joachim Prassel, der seit einem Sportunfall vor mehr als 35 Jahren auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Im Mai 2019 ist Hajo, wie er von Freunden genannt wird, mit seiner Frau nach Michelstadt gezogen. Es hat nicht lange gebraucht, bis der streitbare Sozialpolitiker in seiner neuen Heimat an die Themen angeknüpft hat, für die sein Herz schlägt. Hier hat er sich, wie schon an seinem früheren Wohnumfeld in Bad Vilbel, kommunalpolitisch engagiert und ist mit der Konstituierung des neuen Parlaments im Frühjahr für die SPD in den Magistrat eingezogen. Verstanden möchte er nicht nur als Fürsprecher für die Rechte Behinderter, sondern „als erkennbar Betroffener, der für das Spiegelbild der Gesellschaft steht“, wie er sagt. Viel Wissen und Erfahrung bringt er in die Gremien ein durch seine langjährige Rolle als Behindertenbeauftragter und VDK-Berater in Sozialrechtsfragen. Das Beratungsangebot setzt er an seiner letzten Wohnstätte einmal im Monat für vier Stunden weiter fort. Für Michelstadt hat er sich Größeres vorgenommen. Keiner Wunder also, dass sowohl die Satzung als auch die Stellenbeschreibung, die für die größte Stadt des Odenwaldkreises die Position eines ehrenamtlichen Inklusionsbeauftragen vorsieht, seine Handschrift trägt.
Hierfür tritt der engagierte Verfechter für eine gerechtere Teilhabe auf mehreren Feldern ein. Da ist sowohl die Sache selbst, aus grundsätzlichen und übergeordneten Erwägungen heraus als auch die konkrete Situation in Michelstadt. „Es geht nicht, dass Teile der Gesellschaft systematisch ausgeschlossen werden“, kündigt Prassel auch konkrete Handlungsschritte an. Zum anderen lenkt er den Blick auf Verständnisfragen, ohne deren Antworten die Gefahr bestünde, dass Diskussion und Zielsetzung in die falsche Richtung laufen. Bislang sei es darum gegangen, Situationen anzupassen. Der Begriff Integration von Außenstehenden machte die Runde, was sich sowohl auf Behinderte als auch auf Menschen mit Migrationshintergrund erstreckte.
Weshalb Prassel bei der Erklärung des Begriffs Inklusion sogar von einem „Gegenbegriff zur Idee der Integration“ spricht, erklärt sich bei der Betrachtung der UN-Behindertenrechtskonvention, deren Ratifizierung immerhin schon zwölf Jahre zurückliegt. Leider hinke sowohl die gedankliche Vorstellung als auch die Praxis in all den verstrichenen Jahren immer noch der Idee der Inklusion hinterher. „Es geht nicht darum, irgendetwas für Behinderte zu tun“, erklärt der Sozialpolitiker, sondern „die Dinge im Vorhinein so zu planen, dass sie für einfach jeden ohne Hindernisse nutzbar sind“. Mehr als nur rhetorisch spannt Prassel an dieser Stelle den Bogen, wie bei der Begrifflichkeit Integration, um von einem grundsätzlichen Menschenrecht sprechen zu können, das auch auf andere Gruppen wie Migranten und Menschen mit anderer sexueller Identität zutreffe.
Zurück zu der Aufgabe, in Michelstadt eine ehrenamtliche Stelle einzurichten, die sich für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung starkmachen soll. Einstimmig hat die Stadtverordnetenversammlung als Voraussetzung dafür am 21. September die Satzung beschlossen. Die Bewerbungsfrist endet am 10. Dezember. Die Grünen-Fraktion hätte es lieber gesehen, dass eine bezahlte Planstelle eingerichtet wird. Als Mitglied des Magistrats kommt Prassel so oder so nicht in Frage. Das Zeug dafür hätte er bestimmt, wissen nicht nur seine Fraktionskollegen zu schätzen. 21 Jahre lang war der gelernte Betriebswirt und Lehrbeauftragter an der Hochschule an seiner früheren Wirkungsstätte beim Hessischen Rundfunk freigestellte Vertrauensperson für Schwerbehinderte. Seit sieben gehört er dem Landesvorstand des VdK-Sozialverbands Hessen-Thüringen an. In einer ehrenamtlichen Besetzung der Stelle in Michelstadt sieht Prassel einen guten Anfang gemacht. Wichtiger als eine Vergütung ist ihm, dass alle Fraktionen das Vorhaben grundsätzlich unterstützen und die ausgewählte Person weisungsunabhängig an ihre Aufgabe herangehen kann. Großen Bedarf sieht Prassel bei baulichen Gegebenheiten von öffentlichen wie privaten Räumen in der Stadt, nicht minder aber auch im öffentlichen Raum und rund um das Thema Mobilität. Was kurz vor dem Jahreswechsel zu seinem Bedauern kaum jemand im Blick hat, zeigt ein weiteres Mal auf, weshalb Prassel provokativ davon spricht „wir bewegen uns im Mikrotempo“, wenn es um die konkrete Umsetzung der Verpflichtungen der UN-Konvention vor der eigenen Haustür geht.
Wie ein roter Faden ziehe sich das Thema quer durch alle Bereiche, zählt er auf, wenn beispielsweise die Rede von einem generationsübergreifenden Zusammenleben ist. Als Spezialist für barrierefreies Bauen weiß er, dass nicht immer kostspielige Investitionen erforderlich sind, sondern auch mit vergleichsweise einfachen Mitteln Abhilfe geschaffen werden kann. Wer als Ladenbesitzer beispielsweise in eine bewegliche Rampe investiert, eröffnet auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen Zugang zu seinem Geschäft, wenn bereits eins bis zwei Stufen diese zuvor davon abgehalten haben. „Wer dieses Prinzip verstanden hat, erweitert automatisch seinen Kundenkreis und erfährt positive Rückmeldungen“, rät Prassel dazu, ein Beratungsangebot in der Stadt zu installieren und dafür zu werben.
